Tristesse am Gleisdreieck

23 Mai

Vier oder fünf Fußminuten von dem Ort entfernt, an dem ich mir meine Brötchen verdiene, dem Potsdamer Platz, beginnt ein Gelände, dass eigentlich seit 1945 keine wirklich nützliche Verwendung mehr hatte.

In der Linkstrasse war der Potsdamer Bahnhof nebst Potsdamer Ringbahnhof, kurz dahinter der Anhalter Bahnhof, gefolgt vom Anhalter Güterbahnhof (in dessen letzten alten Schuppen sich jetzt das Technikmuseum mehr Raum verschafft hat), dazu gab es die riesigen Flächen des Betriebswerks des Anhalter Bahnhofs, des Potsdamer Aussenbahnhofs, des Dresdner Güterbahnhofs, des Wannseebahnhofs und des Postbahnhofs  und oben drüber schwebten die Hochbahngleise der Linien, die zum U-Bahnhof Gleisdreieck führten. Alles in allem ein unwahrscheinlich grosses Industriegebiet.

Einen Überblick gibt der Westermann-Stadtplann von 1932.

Die Bahnhöfe und die Infrastruktur haben das Kriegsende nur bedingt überlebt, wie jeder weiß, wurde der Anhalter Bahnhof nur noch rudimentär wieder in Betrieb genommen und letztendlich 1959 gesprengt. Danach begann die paradiesische Zeit des Geländes. Jahrzehntelang kümmerte sich wirklich kein Mensch um die am Stadtrand des damaligen Westberlins befindliche Grünbrache. Ein Biotop und gleichzeitig Freiluftmuseum enstand. Gleisanlagen, zufällig liegengebliebene Waggons, Infrastruktur, wie Gebäude, Wagenmeistereien, Stellwerke, Drehscheiben, Lokschuppen. Alles war sich selbst überlassen.

Bernd Mühlstraßer war als 16jähriger Schüler 1980 in Berlin und hat unter anderem damals das überwucherte Gelände besucht und fotografiert.

Yorckbrücken 1980 – Foto von Bernd Mühlstraßer

 

Der U-Bahnhof Gleisdreieck, der über alle dem trohnt, hat auch wechselhafte Zeiten hinter sich. Die Linie nach Kreuzberg fuhr ja weiterhin (und machte Furore als Musical „Linie1“), die Linie 2, die hinterm Gleisdreieck nach Mitte fuhr, war abgeklemmt, auf einem kleinem Abschnitt fuhr eine Strassenbahn, die Flohmarktbesucher zum Bülowplatz karrte. Später entschied sich der Senat dafür, eine Magnetbahn (M-Bahn) vom Gleisdreieck zum Kemperplatz fahren zu lassen, wofür der stillgelegte Bahnsteig wiedereröffnet wurde. Dieser Bahn war durch die Maueröffnung und durch Unfälle ohnehin kein langes Leben beschert. (Stände sie noch, würde sie jetzt direkt durch mein Büro fahren ….)

Gleisdreieck 1980, vergessener preussischer Waggon – Bild Bernd Mühlstraßer

 

Was auf dem Erdboden unter der Hochbahn passierte, interessierte wenige. In den Gleisbögen, die auf verschiedenen Wegen zum Potsdamer Platz führten, siedelten sich die üblichen Kleingewerbler an. Autowerkstätten, Lagerbetriebe, Schilderdrucker, Sackhandel, Blechbieger und dergleichen. Im Gelände dösten derweil die hinterlassenen Waggons preussischer Herkunft und zerfielen im Laufe der Jahre. In den Gebäuden wohnten Leute, die man damals als „Gammler“ bezeichnete, Kreuzberger Teenies rauchten ihre erste Zigarette hier und über diverse verlorene Unschuld darf man ruhig spekulieren. Platz war allemal genug vorhanden.

    Gleisdreieck 1980, vergessener preussischer Waggon - Bild Bernd Mühlstraßer

Gleisdreieck 1980, vergessener Waggon – Bild Bernd Mühlstraßer

 

In den siebziger Jahren wurden die architektonisch und ingenieurtechnisch interessanten Pendelstützen der Brücken über die Yorckstrasse in Kreuzberg mit Beton ummantelt, damit sie für Autofahrer nicht mehr so gefährlich waren. Der letzte Anstrich dieser Brücken erfolgte noch in den vierziger Jahren ….

Information über den Brückenanstrich an den Yorckbrücken in Berlin Kreuzberg

Information über den Brückenanstrich an den Yorckbrücken in Berlin Kreuzberg

 

Die Reste des BW mit Wasserturm gammelten ohne Aussicht auf Zukunft vor sich hin. Heute ist das Technikmuseum auf einem Teil des Areals, der Wasserturm existiert noch. 1980 sah das so aus.

Gleisdreieck 1980, Wasserturm des BW - Bild Bernd Mühlstraßer

Gleisdreieck 1980, Wasserturm des BW – Bild Bernd Mühlstraßer

 

Zeitsprung. Mai 2012. Fangen wir an der Dennewitzstrasse an. Ehemals waren an der Seite, die dem Gleisdreiecksgelände zugewandt waren, etliche Gewerbebetriebe. Heute: Alles verlassen.

Tristesse am Gleisdreieck, leerstehender Kfz-Betrieb - 22.Mai 2012

Tristesse am Gleisdreieck, leerstehender Kfz-Betrieb – 22.Mai 2012

 

Zugetünchte Fenster.

Tristesse am Gleisdreieck, zugetünchte Fenster - 22.Mai 2012

Tristesse am Gleisdreieck, zugetünchte Fenster – 22.Mai 2012

 

Ein paar Schritte die Strasse herunter, grünt zwar ein mächtiges Gewächs, aber wohnen möchte man so doch wirklich nicht. Oder?

Tristesse am Gleisdreieck, Dennewitzstrasse - 22.Mai 2012

Tristesse am Gleisdreieck, Dennewitzstrasse – 22.Mai 2012

 

Aus welchen Gründen auch immer …. der Senat hats beschlossen oder die Bahn mußte mal wieder eine Ausgleichsfläche für ihreHochgeschwindigkeitstrassen schaffen oder die Grün-Berlin GmbH brauchte Geld … das verwunschene Gelände unter und ums Gleisdreieck wird jetzt mit wissenschaftlicher Fachbegleitung zu einem PARK umgebaut. und das sieht dann so aus:

Tristesse am Gleisdreieck, Arbeiten am Park - 22.Mai 2012

Tristesse am Gleisdreieck, Arbeiten am Park – 22.Mai 2012

 

Auch im nächsten Bild sind eindeutig blühende Landschaften zu sehen ….

Tristesse am Gleisdreieck, Arbeiten am Park - 22.Mai 2012

Tristesse am Gleisdreieck, Arbeiten am Park – 22.Mai 2012

 

Der bereits fertiggestellte Teil des „Parks am Gleisdreieck“ ist zu schrecklich geworden, als dass ich ihn hier jetzt mit Bildern zeigen möchte. Da darf jeder bitte selber googlen. Mir waren ja sogar die Beachvolleyballfelder lieber als das jetzt hier.

Was an der Luckenwalder Strasse mit den alten Gleisbögen passieren wird, ist fast vorhersagbar. In Benutzung ist keiner mehr, und anstatt hier nochmal ein Nutzungskonzept zu überlegen, wird das letzte Stück Gleistrasse, das mal zum Wannseebahnhof führte und schon abrupt von diesem komischen Parkhaus am Mendelsohn-Bartholdy-Park angeknabbert wurde, wahrscheinlich Ende 2012 Geschichte sein.

Tristesse am Gleisdreieck, Gleisbogen 37 - 22.Mai 2012

Tristesse am Gleisdreieck, Gleisbogen 37 – 22.Mai 2012

Meint man, der Tristesse dann endlich entkommen zu sein, fällt der letzte Blick auf die Gebäude am Ende der Luckenwalder Strasse und man geht dann doch nicht wirklich versöhnt heim.

Tristesse am Gleisdreieck, Brandmauern - 22.Mai 2012

Tristesse am Gleisdreieck, Brandmauern – 22.Mai 2012

 

Vielen Dank an Bernd Mühlstraßer aus Oberammergau für die Erlaubnis, seine Bilder benutzen zu dürfen. Der Originalartikel mit etws mehr Hintergrund ist aus der Drehscheibe-Online abrufbar

 

 

 

 

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